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Andreas Felger, Alblandschaft – Durchdringung, 1974 © AFKS

WANDBILD: Alblandschaft – Durchdringung, 1974, Keramikfliesen mit Unterglasurbemalung, ca. 550 x 1000 cm

1974 erhielt Andreas Felger den Auftrag, ein Wandbild für die Mössinger Schwimmhalle zu entwerfen. Damit war der knapp vierzigjährige Textildesigner und freischaffende Künstler vor eine Aufgabe gestellt, die ihm nicht nur in Bezug auf das Material neu war, sondern auch aufgrund ihrer Größendimension. Die Alblandschaft – Durchdringung besteht aus 280 bemalten Keramikfliesen, die eigens in Höhr-Grenzhausen (bei Koblenz) aus 50 x 50 cm großen Schamottplatten gebrannt wurden. Die Bemalung der vielen nebeneinander ausgelegten Platten kann man sich wie ein überdimensionales Puzzle vorstellen, das vom Künstler in ständigem Wechsel zwischen Nahsicht und Abstandnahme zusammengesetzt wurde.

Da Keramikfarben ihre Leuchtkraft verlieren, wenn Farbschichten einander überlagern, wählte Felger klar abgegrenzte Farbflächen sowie einfache, markante Strukturen und Hell/Dunkel-Kontraste, die Ähnlichkeiten mit den Formprinzipien seiner Holzschnitte und Stoffmuster der frühen 1970er Jahre aufweisen. Die verschiedenen Raumebenen der Alblandschaft – Durchdringung sind horizontal übereinandergeschichtet: Am unteren Bildrand ist das Motiv kleinteilig verdichtet, darüber öffnet es sich zum Himmel und der markanten Bergsilhouette. Die Keramikbemalung ist in kraftvollen Diagonalstrukturen durchmustert, die sich quer zum Raster der Fliesenfugen stellen. Die Belebung der Fliesenoberfläche durch die Lichtreflexe des Bades und zugleich die quasi-impressionistische Auflösung des Wandbildes im Spiegelbild der Wasseroberfläche verwandeln die Landschaft in ein schillerndes Panorama künstlerisch bearbeiteter Naturschönheit.

Autor: Marvin Altner


Andreas Felger, Alblandschaft – Durchdringung (Studie), 1974 © AFKS

Andreas Felger, PAUSA Skulptur, 2015 © AFKS

PAUSA Skulptur, 2015, Holz, blau lackiert, 350 x 110 x 24 cm

Die Skulptur am Löwensteinplatz weist zurück auf die Anfänge der Mössinger Textildruckfirma Pausa in der Zeit nach dem Ersten Weltkrieg und zugleich voraus auf die städtebauliche Zukunft des denkmalgeschützten Gebäude-Ensembles. In den 1950er Jahren von dem Architekten und Bauhaus-Schüler Manfred Lehmbruck errichtet, werden die Pausa-Bauten heute vor allem kulturell genutzt und weiterentwickelt. Die Biografie Andreas Felgers ist mit der Geschichte der ehemaligen Pausa AG eng verknüpft: Hier arbeitete er ab 1950 erst als Lehrling, dann als Musterzeichner, hier war er von 1960 bis 1980 als freischaffender Textildesigner tätig. Dreißig Jahre später kehrte er als anerkannter bildender Künstler in seine Heimatstadt zurück.

Als Zeichen seiner Bereitschaft, an der Transformation des historischen Textilindustrieareals zu einem Ort der Kultur mitzuwirken, und als dessen Wahrzeichen schenkte er 2015 der Stadt Mössingen seine Pausa Skulptur. Das „P“ der Pausa, in der Nachkriegszeit von dem Grafiker und Designer Anton Stankowski für das Firmenlogo zu zwei parallel verlaufenden Balken unterschiedlicher Länge stilisiert, abstrahiert Andreas Felger zu einem Doppel-„P“ aus einem Balken und einer Kreisform. Rücken an Rücken und doch für sich stehend erscheint die Skulptur als zeitgenössisches Piktogramm mit Anspielung auf die Stoffmuster der goldenen Pausa-Jahre in den 1970ern. Durch die nach oben offene Kreisform der Pausa Skulptur können Akteure und Besucher des Pausa-Quartiers optimistisch gestimmt in die Zukunft blicken, ohne die Geschichte des Orts und seine Textil-Tradition außer Acht zu lassen.

Autor: Marvin Altner


Andreas Felger, PAUSA Skulptur (Detail), 2015 © AFKS

Andreas Felger, Relief/Säule, 1995 © AFKS

HOLZRELIEF Begegnung – Marktplatz, 1995, Ölfarbe auf Holz, 280 x 280 cm. Weiteres Werk: Brunnensäule, 1995, Marmor, H 210 cm, Dm 32 cm (ohne Abb.)

Marktplatz, Brunnen und Begegnung sind die Titel der Werkgruppe Andreas Felgers in der VR Bank eG Steinlach-Wiesaz-Härten in Mössingen nahe der Heimat des Künstlers. Die Begriffe bezeichnen ein Forum, an dem Menschen etwas aushandeln, wo ein Brunnen für Geldflüsse sprudelt (oder versiegt) und ein Markt für Währungen floriert (oder daniederliegt). In Zeiten des Online-Bankings, der Geldautomaten und medialer Kommunikationswege erleben wir eine generelle Beschleunigung der Vorgänge in unserem Lebensalltag, auch bei Geldtransfers.

Zeit spielt auch für das zweiteilige Holzrelief Begegnung – Marktplatz (das anfänglich in einem Stück konzipiert war) eine Rolle: Linien fließen, Räder drehen sich fort, Sanduhren verweisen auf ein Zeitmaß, Vergänglichkeit und den Imperativ, die Gunst der Stunde zu nutzen. Der kritische Blick auf die Zeit findet seine Entsprechung in der Begegnung zweier abstrahierter Figuren, die von einer Schlange getrennt werden, Symbol der Verführung. Der Umgang mit Versuchungen ist ein wichtiger Bestandteil des Handelns mit Geld und steht zugleich für eine Dynamik zwischen Menschen, die alle Lebensbereiche durchdringt – sie lässt sich nicht zufällig bis zum Verhältnis zwischen Mann und Frau im biblischen Paradies zurückverfolgen. Schwingt in Felgers Darstellung vielleicht auch die Frage nach der Dauerhaftigkeit des Finanzmarktes mit? Die kleinteiligen Strukturen in der Bildmitte, der eigentliche Marktplatz, ist in der Gesamtkomposition kaum verankert, sondern wirkt eher wie ein ornamentiertes Tuch, das ins Bild gelegt wurde. Als solches ließe es sich jederzeit aufnehmen und forttragen.

Bankgebäude zeigen uns weltweit eine glatte, spiegelnde, scheinbar unerschütterliche Welt, die von Reichtum und Glück sprechen soll. Von solcher Solidität spricht die Marmorsäule im Foyer der Bank. Das farbige Relief steht dazu im Kontrast: Das mit Vertiefungen bearbeitete Naturmaterial Holz, die intensive Buntfarbigkeit und Felgers bildsprachliche Symbolik relativieren die kalte Schönheit des Marmors und rücken den Menschen in den Fokus.

Autor: Marvin Altner

PETER-UND-PAULSKIRCHE UND GEMEINDEHAUS IN MOESSINGEN

Im lichten hohen Kirchenraum der Mössinger Peter-und-Paulskirche setzen die Altar- und Kanzelparamente Andreas Felgers bei Gottesdiensten und an Feiertagen intensive Farbakzente an den Orten des liturgischen Geschehens. Felger orientiert sich an den Ich-bin-Worten Jesu aus dem Johannes-Evangelium und kennzeichnet farblich die Feste und Zeiten des Kirchenjahrs: Ich bin das Brot ist das Thema der Trinitatiszeit und trägt Grün als Grundfarbe. Violett bezeichnet Advent, Passion und die Bußtage (Ich bin die Tür), Weiß die Christusfeste (Ich bin das Licht) und Rot Pfingsten sowie die Kirchenfeste (Ich bin ein König). Die abstrahierenden Linien der Entwürfe Felgers für die später in einer Stuttgarter Paramentenwerkstatt gewebten Stoffe sind charakteristisch für seine malerische Handschrift.

Wer sich von der Kirche zum nahegelegenen Gemeindehaus begibt, wird in den dortigen Holzreliefs zum Sonnengesang des Franziskus entdecken, wie Elemente unterschiedlicher Medien im Werk von Andreas Felger verschmelzen können: Druckgrafik, Textilgestaltung, Malerei und Skulptur sind vielfältig miteinander verflochten. Schon Ende der 1970er Jahre hatte der Künstler begonnen, Holzoberflächen zu bearbeiten und zu bemalen, so zum Beispiel die sieben 1980 fertiggestellten Reliefs für die Auferstehungskirche in Mainz. Der Mössinger Sonnengesang von 1989/90 stellt einen weiteren Schritt zur dreidimensionalen bildhauerischen Arbeit dar und ist zugleich das erste Werk, das er mit Acrylfarben gestaltet hat. Deckend aufgetragen erzeugt Acryl eine glatte, homogene Farbmaterialität, wodurch die klaren, eindrücklichen Schnitzformen besonders zur Geltung kommen.

Der um 1225 entstandene Text des Franz von Assisi, auf den sich der Künstler bezieht, ist eines der ältesten Zeugnisse der italienischen Literatur, ein Lobgesang auf Gott, den Herrn, durch die Anrufung etwa der vier Elemente der irdischen Schöpfung als Schwestern und Brüder. Ein Beispiel: „GELOBT SEIST DU HERR / durch Bruder Wind / und Luft und Wolke und Wetter / die sanft oder streng nach deinem Willen / die Wesen leiten die durch dich sind“.

Ordnete man die zehn Verse des Gesangs nebeneinander an, würde eine symmetrische Abfolge entstehen. Im Zentrum die vier Elemente Luft, Wasser, Feuer und Erde, eingerahmt von drei jeweils komplementären Figurenpaaren: Lob des Herrn | Sonne | Kosmos | vier Elemente | Leid/Frieden | Tod | Lob des Herrn.

Während also die zwei Lobpreisungen Gottes am Anfang und Ende stehen, bilden das lebensspendende Licht und der lebensfeindliche Tod ein Gegensatzpaar und entsprechen darin den gegensätzlichen Vorstellungen von kosmischer Einheit einerseits und andererseits dem menschlichen Leben im Widerspruch zwischen irdischem Leid und Suche nach (innerem) Frieden.

Betrachtet man die sieben Relieftafeln Andreas Felgers, ergibt sich eine andere, ebenfalls siebenteilige Abfolge: Sonne | Kosmos | Luft | Wasser | Feuer | Erde | Tod. Die äußere Klammer, Sonne und Tod, sind aus dem Gesang erhalten geblieben (wenngleich sie ihre Positionen gegeneinander vertauscht haben). Kosmische und irdische Welt bilden ein Gegensatzpaar. Luft und Feuer sind ambivalent miteinander verbunden, insofern beide Kräfte erhalten (Atem/Wärme) und zerstören (Sturm/Brand). Im Zentrum steht letztlich das Wasser als Quelle der Schöpfung, eine Metapher für den göttlichen Ursprung des Seins.


Andreas Felger, Sonnengesang des Franziskus – Sonne, 1989, Acryl auf Lindenholz, 100 x 80 x 10 cm © AFKS

Andreas Felgers 1990 vollendeter Sonnengesang bildet einen Höhepunkt seines Schaffens in einer Zeit des Aufbruchs, in der er wenige Jahre zuvor mit der Ölmalerei begonnen hatte, und ein Jahr später seinen Wohnsitz und sein Atelier von Bad Camberg nach Gnadenthal verlegt hat. Die Bildtafeln vermitteln wohl austariert zwischen Malerei und räumlichen Schichtungen des Materials. Ein prägnantes Beispiel zeigt der Tod im siebten Relief.


Andreas Felger, Sonnengesang des Franziskus – Tod, 1989, Acryl auf Lindenholz, 100 x 80 x 10 cm © AFKS

Er wird nicht von einem gemalten Rahmen eingefasst, sondern ‚liegt‘ tatsächlich in einem ‚Kasten‘ aus dem Lindenholz, in das er geschnitten wurde. Die ihn bekrönenden Buchstaben TOD, exakt in der Breite des Sarges platziert, sind entgegengesetzt herausgearbeitet: Die Buchstaben ragen über die Oberfläche hinaus, so dass ein Positiv/Negativ-Effekt entsteht. Vielfach arbeitet der Künstler in den Reliefs mit Trennungen und Überschneidungen, die nicht nur formale Qualitäten, sondern auch inhaltliche Aussagekraft haben. Bildet der Tod in Figur und Sprache eine Einheit, so wird er unten von der rechten Hälfte des Esels überlagert, der als Vermittler zwischen Tod und Heilsgeschehen dient – sein Schicksal geduldig tragend und dadurch den Frieden findend, den Franziskus im achten Vers besingt: „Gelobt seist Du, mein Herr, durch jene, die verzeihen um deiner Liebe willen / und Krankheit ertragen und Drangsal. / Selig jene, die solches ertragen in Frieden, / denn von dir, Höchster, werden sie gekrönt werden“.


Andreas Felger, Sonnengesang des Franziskus – Wind, 1989, Acryl auf Lindenholz, 100 x 80 x 10 cm © AFKS

Erstaunlich ist, wie es Felger gelingt, die Leichtigkeit und Beweglichkeit der Elemente Feuer, Wasser und Luft ins Holz zu schneiden. Das harte Material spricht von Lodern, Fließen und Wehen, als sei es von Künstlerhand animiert worden. Besonders dynamisch zeigen sich die Wellenlinien der Luft im Relief Wind, die an eine mit Elan gezeichnete Skizze denken lassen. Auf den zweiten Blick wird deutlich, dass eine klare Aufteilung der Bildfelder die Komposition und den Farbauftrag bestimmt: Stabil und dunkel der Boden am unteren Bildrand, kraftvoll gebläht die Rundungen rechts und feiner, zarter die Lasuren und Formen links der bestimmenden Bildvertikale, welche sich auch als Figur mit äußerst bewegten Gliedmaßen lesen lässt.


Andreas Felger, Sonnengesang des Franziskus – Erde, 1989, Acryl auf Lindenholz, 100 x 80 x 10 cm © AFKS

Wer länger schaut, wird immer mehr Bezüge innerhalb der Bildtafeln und auch zwischen ihnen finden. Die Komposition von Wind entspricht in mehreren Hinsichten der von Erde. Dort zeigt sich in der Mitte ein Kelch mit einem vierteiligen Brot, dessen eingeschriebenes Kreuz auf die christliche Hostie, den Leib Jesu verweist. Fast scheint es dem Betrachter, als könnten die Bildelemente in ihren einfachen, weichen, fließenden Formen augenblicklich in Bewegung geraten. Die flächige Anordnung auf verschiedenen tiefenräumlichen Ebenen erzeugt den Effekt von Bühnenkulissen, die vor-, neben- oder ineinandergeschoben wurden. Das mag auch daran liegen, dass die Reliefs miteinander kommunizieren, in Wechselverhältnissen stehen: So begegnen etwa Tag und Nacht einander in Sonne und Kosmos, während der kleine siebenarmige Leuchter in Kosmos Bezug auf den siebenteiligen Sonnengesang-Zyklus als Ganzem nimmt.


Andreas Felger, Sonnengesang des Franziskus – Kosmos, 1989, Acryl auf Lindenholz, 100 x 80 x 10 cm © AFKS

Autor: Marvin Altner

REHABILITATIONSKLINIK BAD SEBASTIANSWEILER, MÖSSINGEN
SKULPTURENPARK

Seit 2009 lebt Andreas Felger wieder in seinem Geburtsort Belsen bei Mössingen. 2010 richtete er sein Atelier in einer ehemaligen Kapelle im Kurpark der Rehabilitationsklinik Bad Sebastiansweiler ein und transformiert den Park seit 2012 mit seinen Skulpturen in einen Ort der Kunst. Wer den Park durchschreitet, dem fällt es nicht schwer, in der Skulpturengruppe Zehn Gebote das zentrale künstlerische Monument zu erkennen. Ehrfurcht gebietend erheben sich die einzelnen Stelen, massive, hoch aufragende Quader aus Muschelkalk. Nur ihre zart changierenden Oberflächen nehmen diese Wirkung zurück, binden sie materiell und ästhetisch in die sie umgebende Parknatur ein.


Andreas Felger, Zehn Gebote, 2013, Kirchheimer Muschelkalk, je 250 x 30 x 30 cm, Fotograf: Benedikt Schweizer © AFKS

Es scheint, als würden die zehn Stelen umspielt von den buntfarbigen, beweglich wirkenden Skulpturen, die Felger in ihrer nächsten Umgebung aufgestellt hat: Paar, Fliehende, Kreisform und Leerform. An ihnen zeigt sich des Künstlers leichte Hand, seine Lust am Figürlichen, an der monochromen, leuchtenden Farbe, an den Metamorphosen der Form.


Andreas Felger, Fliehende, 2008, Blau lackierter Stahl, 200 x 80 x 0,50 cm, Fotograf: Benedikt Schweizer © AFKS

Figurativ gedacht wirken die Zehn Gebote wie eine Aufstellung väterlich-schöpferischer Autorität, die im Park verteilten einzelnen Skulpturen hingegen wie die Welt der Geschöpfe, belebt von künstlerischem Formspiel und menschlich anmutender Emotion. Der Blick auf Andreas Felgers Werk erweist: Strenge und Standfestigkeit gehören zu seiner Kunst ebenso wie die spontane Geste, die skizzierte Form. Selten drückt sich die Verschlossenheit jedoch so deutlich und gewichtig aus wie in den Stelen in Bad Sebastiansweiler. Streng ist der Künstler vor allem mit sich selbst, in seiner Arbeitshaltung. Resultierend aus Stetigkeit und täglicher Übung lässt sie erahnen, dass dieses Exerzitium auch eine moralische Dimension hat. Das Handeln des Künstlers, zugleich sein Handwerk des Lebens (Cesare Pavese) gründet auf Regel und Regelmäßigkeit. Das Schöne, Überraschende und Inspirierende daran: Aus dieser Haltung entstehen Werke, die so strahlend und vielfältig erscheinen und so offensichtlich aus den Momenten des Handelns heraus entstanden sind, dass die Fülle und der Reichtum der – künstlerischen – Welt sich auftut. Aus der Regelhaftigkeit der Abläufe (nach dem Vorbild des Organischen) entsteht erst die Freiheit des Handelns. Ein Widerspruch auch der alttestamentarischen Zehn Gebote, der nicht theoretisch, sondern nur praktisch auflösbar ist.


Andreas Felger, Zehn Gebote (Detail), 2013, Kirchheimer Muschelkalk, je 250 x 30 x 30 cm, Fotograf: Benedikt Schweizer © AFKS

Andreas Felgers Stelen-Geometrie steht auf einem als gleichseitiges Dreieck ausgeformten Fundament, das wie eine Pfeilspitze nach Osten weist. Obwohl die Skulptur allansichtig ist, hat sie eine nach Westen gerichtete Schauseite. Das ist erst zu bemerken, wenn sich der Betrachter dem Werk nähert und die römischen Ziffern für die Zahlen I–X erkennt. Die Stele mit der Ziffer I steht von der Schauseite aus an der abgewandten Spitze des Dreiecks, ist am weitesten vom Betrachter entfernt und daher von fast allen Blickpunkten für den Betrachter verdeckt. Die Ziffer, die für die Worte Gottes „Ich bin der Herr, dein Gott“ steht, zeigt sich nur aus dem Verborgenen durch einen Spalt. Eine besondere Bedeutung hat in diesem Zusammenhang die mit III bezeichnete Stele, die auf das Bilderverbot verweist: „Du sollst Dir kein Gottesbild machen und keine Darstellung von irgendetwas am Himmel droben, auf der Erde unten oder im Wasser unter der Erde.“ (Ex 20,2–17 EU) Das „Du sollst …“ liest sich wie eine Vorlage für Andreas Felgers Konzept der Vergegenwärtigung ohne Darstellung. Die Gebote sind nicht zu lesen, die Stelen stellen sie nicht dar, doch sie verweisen auf den Text und geben ihrer Wirksamkeit in unmittelbarer Nähe zur ehemaligen Kapelle in Bad Sebastiansweiler Raum. Insofern ist Felgers Stelen-Gruppe ein Denkmal des Dekalogs.


Andreas Felger, Zehn Gebote, 2013, Kirchheimer Muschelkalk, je 250 x 30 x 30 cm, Fotograf: Benedikt Schweizer © AFKS

So einheitlich dieses Denkmal formal erscheint, so sehr steht es im Widerspruch zu unseren Lesegewohnheiten. Die Nummerierung I–X wird von der Schauseite gesehen in X–I umgekehrt und man ‚liest‘ die Ziffern in der Abfolge von rechts nach links zur Mitte hin. Dass nicht dargestellt wird, heißt nicht, dass keine Interpretation möglich wäre: In säkularer Zeit führt Andreas Felger den Betrachter rückwärts an die Gebote heran, weil uns die letzten vier am nächsten, am geläufigsten sind. Sie führen hin zu entfernteren Geboten, die Schöpfungsgeschichte, das Bilderverbot, den Monotheismus bis zur Selbstoffenbarung Gottes im ersten Gebot. Die „Wächter“ über dem Park von Bad Sebastiansweiler, deren Aufrichtung in jedem Betrachter den aufrechten Menschen ansprechen, können sich aber auch ganz anders zeigen. Aus einiger Entfernung, beim Blick zurück über die Schulter verschmelzen sie zu einer feinen hellgrauen Oberfläche, auf der sich das Licht- und Schattenspiel der Bäume abzeichnet. Die abstrakten Quader der Zehn Gebote sind für Naturerscheinungen empfänglich, während Paar und Fliehende ganz mit sich selbst beschäftigt bleiben.


Andreas Felger, ohne Titel, um 2000, verzinkter Stahl, 130 x 130 cm, Fotograf: Benedikt Schweizer © AFKS