Andreas Felger, ohne Titel, 2005
Aquarell auf Papier, 37 x 27,5 cm © AFKS
ohne Titel
2005
Aquarell auf Papier
37 x 27,5 cm

Das Blatt trägt keinen Titel, doch wer Andreas Felgers Engel-Darstellungen kennt, zögert nicht, hier eine zu erkennen. Seine Engel faszinieren mich, weil sie grundsätzlich innerhalb der Darstellungskonventionen bleiben (‚menschenähnliche androgyne Gestalt mit Flügeln‘), er aber gerade darin oder daraus eine nicht enden wollende Diversität der Engel-Erscheinungen hervorbringt. Besonders gefällt mir, dass viele seiner Engel nicht idealisiert sind, sondern unter Konflikten, Problemen und Beschränkungen leiden – und dadurch den Betrachter*innen nicht entrückt werden, sondern ihm nah sind.

Künstler*innen begegnet in Bezug auf Engel zunächst ein Darstellungsproblem, etwas Unsichtbares, Geistiges zu materialisieren, also mit Linien und Farbe auf der Fläche zu zeigen. Ein Lösungsansatz liegt in der Abstraktion, die Darstellung geht so weit in Form und Farbe auf, dass sie gewissermaßen ungegenständlich, ätherisch wird. Ein weiterer besteht hier im Aquarell in der Spontanität, Flüchtigkeit und Leichtigkeit der Zeichnung und des Farbauftrags, die ebenfalls den Engel in seinem Element erfassen.

Auf dem vorliegenden Blatt erscheint mir die Figur wie ein Mensch, der mit den Flügeln (noch) nicht umzugehen weiß, zu groß für ihn stellen sie sich quer, reichen von der Erde bis in den Himmel und gehören fast mehr zur Landschaft als zur Figur, die klein und entfernt wie in einem Medaillon eingefasst wird. Gewiss, farblich sind Figur und Flügel eins, ein wenig Weiß um den Kopf gelegt lässt an einen Heiligenschein denken.

Möglicherweise ist es auch gar keine Engel-Abbildung, sondern die Darstellung einer Engel-Werdung. Ein Verpuppungsprozess findet statt, aus dem eine Transfiguration entsteht, die Verwandlung eines irdischen in ein himmlisches Wesen. Ein schwieriger Prozess, die Elemente sind noch disproportional, asymmetrisch, die Konturen unregelmäßig. Jede Geburt bereitet Schmerzen, auch die eines Engels, solange seine Flügel noch so tief in den Horizontlinien des Irdischen verankert sind.

Text von Marvin Altner

Marvin Altner ist promovierter Kunsthistoriker und Dozent für Kunstwissenschaft an der Universität Kassel. Nach einem Volontariat an der Hamburger Kunsthalle war er als wissenschaftlicher Mitarbeiter und Kurator an Berliner und Hamburger Museen sowie als freischaffender Autor im Bereich der bildenden Kunst des 19. Jahrhunderts bis zur Gegenwart tätig. Seit 2012 lehrt er an der Kunsthochschule Kassel im Studiengang Kunstwissenschaft und arbeitet als wissenschaftlicher Mitarbeiter für die Andreas Felger Kulturstiftung, unter anderem als Autor, Ausstellungskoordinator und Betreuer der Datenbank der Werke von Andreas Felger.